Am 4. Juni 1938 um 15:25 Uhr rollte der Orient-Express aus der Halle des Wiener Westbahnhofs in Richtung Paris. Mit an Bord saß eine der bedeutendsten Personen der damaligen Zeit: Der damals 82-jährige Sigmund Freud. Er verlässt die Stadt, die er geliebt und unter der er zugleich gelitten hat. Er sollte sie nie wiedersehen. Exakt 80 Jahre später wurde heute, Montag, 4. Juni 2018, auf dem Gelände vor dem Rektorat der Medizinischen Universität Wien eine überlebensgroße, vom Künstler Oscar Nemon in London gestaltete, Freud-Statue als symbolischer Akt zur Anerkennung von Freuds Leistungen aufgestellt und enthüllt. Dem Festakt wohnten auch Lord David Freud, Urenkel von Sigmund Freud, und Heinz Faßmann, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung, bei.
„Mit diesem Akt wollen wir einerseits die großen Leistungen Sigmund Freuds anerkennen und uns als Medizinische Universität Wien unserer Verantwortung für die Vertreibung dieses hervorragenden Wissenschafters stellen“, sagte MedUni Wien-Rektor Markus Müller. „Der ‚Anschluss‘ Österreichs durch das nationalsozialistische Deutsche Reich war eine tiefe Zäsur in der Geschichte unserer Universität. Lange Zeit wurden die Folgen verschwiegen. Aber die verheerenden Auswirkungen des Jahres 1938, insbesondere die Vertreibung von mehr als der Hälfte des medizinischen Kollegiums aus rassistischen und antisemitischen Gründen, sind vor allem eine Warnung der Geschichte an kommende Generationen.“
Einflussreichster Forscher der Welt
Stephan Doering, Leiter der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der MedUni Wien, unterstrich die großen Leistungen Sigmund Freuds: „Mozart und Freud sind die bekanntesten Österreicher weltweit und die Berggasse 19, Freuds Wohnadresse in Wien, ist die berühmteste Adresse weltweit. Außerdem ist Freud der am meisten zitierte Forscher Österreichs mit einem Hirsch-Faktor von 282. Er ist damit der einflussreichste Wissenschafter überhaupt.“ Zugleich betonte Doering, dass Freuds Visionen an der MedUni Wien erfüllt seien: Seit 1971 gibt es die Klinik für Psychoanalyse und ein damit auch ein Ambulatorium für sozial schwache PatientInnen, die Psychoanalyse auf Krankenschein bekommen können, so Doering. Zudem werde psychoanalytische Forschung ganz im Sinne Freuds betrieben, der sein Fachgebiet stets auch näher an die Medizin und Biologie herangerückt sehen wollte. Und ab 2019 wird es an der MedUni Wien einen postgraduellen Lehrgang in Psychoanalyse und psychodynamischen Psychotherapien geben.
„Ich freue mich, dass es nach all den Jahren eine Statue meines Urgroßvaters in der Stadt gibt, für die sie ursprünglich gedacht war. Oscar Nemon hat eine erstaunlich aussagekräftige Skulptur geschaffen, die eine würdige Erinnerung an das Leben und Werk von Sigmund Freud ist. Mehr als anderswo auf der Welt gehört sie an die Medizinische Universität Wien als Nachfolgerin jener Organisation, an der sich Sigmund Freud mit Stolz für die Hälfte seines Erwachsenenlebens als Professor bezeichnen durfte. Ich möchte die Großzügigkeit der Familie Nemon würdigen, die die Form zur Herstellung dieses Neugusses zur Verfügung gestellt hat”, sagte Lord David Freud.
Und Lady Aurelia Young, Tochter des Künstlers Oscar Nemon, ergänzte: „Es war der größte Wunsch meines Vaters, dass seine Statue von Sigmund Freud, die er 1936 in Wien geschaffen hat, auch in Wien aufgestellt werden sollte – dem ursprünglich dafür vorgesehenen Ort. Ich möchte mich bei den vielen Menschen bedanken, die diesen Traum verwirklicht haben, insbesondere bei der Medizinischen Universität Wien, die der Statue ein neues Zuhause gegeben hat.“
Die Bronze-Statue konnte mit Hilfe eines Fundraising-Projekts nach Wien geholt werden. Jede Privatperson bzw. jedes Unternehmen, die/das mehr als 500 Euro spendet, erhält einen Eintrag auf der Tafel, die an der Statue angebracht ist – es werden noch Spenden benötigt.